Crisis Talk vom 13. November 2019

Europäische Politik präsentiert sich den Bürgerinnen und Bürgern nicht selten als Krisenpolitik. Am Ende langer Sitzungsnächte, in denen über Entscheidungen gerungen wurde, treten die Verantwortlichen vor die Presse und verkünden eine lang erwartete Einigung. Mark Weinmeister (Hessischer Europastaatssekretär), der die Gäste dieses 13. Crisis Talks in der Vertretung des Landes Hessen in Brüssel begrüßte, bezog sich auf diese wiederkehrende Choreographie und stellte die Frage in den Raum, ob dieses nächtliche Ringen ein nicht nur engagierter, sondern eben auch nachhaltiger Politikmodus sei. Der Moderator Ralph Sina (WDR/NDR) knüpfte hieran an, als er einräumte, dass es sich dabei nicht nur, aber eben auch um ein Medienphänomen handele. Ein Problem von Krisengipfeln sei eben auch, dass diese die Kräfte der Presse derart binden, dass über deren Berichterstattung hinaus die Darstellung der normalen politischen Prozesse in Brüssel häufig zu kurz käme.

Dies war der Rahmen, in dem in der Folge die Experten Prof. Dr. Oliver Ibert (Direktor des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung), Prof. Dr. Mark Rhinard (Stockholm University) und Dr. Carsten Pillath (Generaldirektor, Rat der Europäischen Union) über die Gipfelnächte in Europa diskutierten. Carsten Pillath stellte dabei zunächst fest, dass die Gipfelnächte von den Beteiligten selbst meist nicht als eine Entscheidungsfindung im Krisenmodus empfunden würden. In Europa komme eben jede Regierung zu Wort, das koste Zeit und so werde es manchmal auch später in der Nacht, bis eine Übereinkunft gefunden werde. Dies sei jedem der Beteiligten klar und bedeute nicht zugleich, dass eine Einigung grundsätzlich in Gefahr sei. Pillaths weitere Ausführungen zu seinen persönlichen Erfahrungen aus solchen Entscheidungssituationen – etwa im Kontext der griechischen Finanzkrise – legten jedoch nahe, dass ganz so viel Understatement nicht immer vorzufinden ist und es eben doch Momente sein können, welche die Forschung als krisenartig beschreibt.

Die Perspektive der Krisenforschung wurde durch Oliver Ibert in einem Impulsreferat skizziert, das zum einen charakteristische zeitliche Krisenverläufe skizzierte als auch deren politische, sachliche und räumliche Einbettung. Ausgehend von dieser akademischen Rahmung machte Ibert klar, dass eine Krisendynamik sich nicht nur aus einem realen Problem ableite. Hinzutreten müsse auch die Wahrnehmung der Akteure, dass es sich um eine Krise handelt. Erst dann werden Entscheidungen möglich, die womöglich mit bisherigen politischen Praktiken brechen, und mit denen eine neue Richtung eingeschlagen werden kann. Kommt all dies zusammen, dann sind Krisen Situationen, in denen Innovationen möglich sind, die über ein Zurück zu einer „normalen“ Politik hinausgehen können. Mark Rhinard ergänzte dies durch seine auf Europa fokussierten Forschungen und verdeutlichte, dass gerade für Europa ein Modus des Fällens kollektiver Entscheidungen unter den beschriebenen Bedingungen der Krise – in seinen Publikationen schreibt er auch von „Verkrisung“ („Crisification“) – charakteristisch sei.

Dies führte zurück zum Beginn der Veranstaltung. Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, die für den Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“ einführende Worte sprach, verwies auf den Begriff der „Dauerkrise“ oder auch „Polykrise“, der gerade in Bezug auf Europa zeigt, dass nach der Krise immer auch vor der nächsten Krise ist und sich die Frage stelle, wie dies auf Dauer auf die europäischen Institutionen wirkt. Denn selbst wenn es sich, mit Bezug auf Carsten Pillath, vornehmlich um eine Wahrnehmung der Presse und der Öffentlichkeit handelt, und nur begrenzt um eine Wahrnehmung der beteiligten Akteure, hat diese Wahrnehmung reale Folgen für den politischen Prozess, wie Oliver Ibert unterstrich, die einer Reflektion bedürfen.

Der Crisis Talk „Gipfelnächte in Europa“ konnte diese Fragen nur aufwerfen und nicht beantworten. Dennoch bot er reichlich Anknüpfungspunkte für die zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörer aus Wissenschaft und Praxis, den Talk besuchten. Die Organisatoren – der Leibniz Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, die Vertretung des Landes Hessen bei der EU, der Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ und das Europabüro der Leibniz-Gemeinschaft – erfreuten sich auch bei diesem letzten Talk der Reihe im Jahr 2019 über großes Interesse des politischen Brüssel an einem Krisenthema.

Die "Crisis Talks" gehen systematisch und entlang konkreter Herausforderungen der Frage nach, wie Europa mit seinen aktuellen und vergangenen Krisen umgeht, was die Chancen der Krisen sind, und was man aus der Bewältigung vergangener Krisen lernen kann. Die Vortragsreihe "Crisis Talks" wird seit Juni 2015 vom Leibniz-Forschungsverbund "Krisen einer globalisierten Welt" regelmäßig in der Vertretung des Landes Hessen bei der Europäischen Union in Brüssel veranstaltet.