Crisis Talk am 1. Juli 2021

"Wir sind auf der Seite derjenigen, die ihre Daten zur Verfügung stellen können, aber nicht müssen." Mit diesen Worten begrüßte Mark Weinmeister, Staatsekretär für europäische Angelegenheiten des Landes Hessen, die Zuschauer:innen vor den Bildschirmen zum 18. Crisis Talk.

Unter dem Titel „Gesundheitsdatenraum im Spannungsfeld zwischen medizinischer Versorgung, Forschungsfreiheit und Datensicherheit“wurde ein brisantes, hochaktuelles Thema verhandelt, bei dem, wie der Koordinator des Leibniz-Forschungsverbunds „Krisen einer globalisierten Welt“ Stefan Kroll in seinem Grußwort betonte, „die Bürger:innen mitgenommen werden müssen“.

Der Anlass des Talks war die Debatte um Datensicherheit im Gesundheitswesen und die Rolle, die der sogenannte europäische Gesundheitsdatenraum dabei spielt. Er soll u.a. Patient:innen ermöglichen, europaweit Ärzt:innen aufsuchen zu können ohne Angst um den Missbrauch ihrer schützenswerten, sehr persönlichen Daten haben zu müssen. Per Klick zum Arzttermin, Online-Konsultationen – Patienten und Praxen freuen sich über die gesparten Telefonate. Die Pandemie befeuerte die Suche nach Teleberatungsoptionen. Dabei tauchen allerdings auch Probleme auf, die Befürchtungen der Bürger:innen wurden sichtbar.

Wenn Daten einmal verfügbar sind, dann gibt es leicht Zugriffe durch die Wirtschaft, durch den Staat.

Indra Spieker gen. Döhmann

Schon der Arztbesuch als solcher ist bereits eine zu schützende Information. Der Gang zur Psychologin oder ins Kinderwunschzentrum ist nichts für die Öffentlichkeit, und Arbeitgeber oder Versicherungen sollten über die verschiedenen Arztbesuche keinen Einblick in die Krankheitsgeschichtebekommen. Sie hatten ihn aber in Deutschland beispielsweise schon, zumindest theoretisch: Sicherheitsexperten berichteten Ende 2020 auf dem Kongress des Chaos Computer Clubs (CCC), wie sie Zugang zu Millionen Terminvereinbarungen inklusive Arzt- und Patientendaten bekamen, da unbekannten Hackern eine umfangreiche Liste mit Patientendaten aus einem Arzttermin-Buchungsportal zugespielt worden war. Wie die Politik auf solche Krisen reagieren kann, war eine der spannenden Fragen der Diskussion.

Axel Voss, CDU-Mitglied und Abgeordneter des Europaparlaments, warnte im Crisis Talk vor übertriebenen Sorgen von Politiker:innen und Bürger:innen. Die DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) werde, so Voss, „als Blueprint für die ganze Welt betrachtet“, sie sei ein „schönes, heiliges Gesetz, was Weltstandard hat und darum darf es keiner anfassen.“

Die Schaffung eines europäischen Datenraums – auch im Gesundheitssektor – ist eine der Prioritäten der Europäischen Kommission für 2019–2025. Er soll für einen effizienten Austausch und direkten Zugriff auf unterschiedliche Gesundheitsdaten (elektronische Patientenakten, Genomikdaten, Daten aus Patientenregistern usw.) sorgen – und zwar nicht nur in der Gesundheitsversorgung (Primärnutzung), sondern auch in der Gesundheitsforschung und der Gesundheitspolitik (Sekundärnutzung).

Die DSGVO wird als Blueprint für die ganze Welt betrachtet.

Axel Voss

Die Kommission arbeitet darum mit den Mitgliedstaaten an der Einrichtung und Entwicklung des europäischen Gesundheitsdatenraums. Eine neue „Gemeinsame Aktion für den europäischen Gesundheitsdatenraum“ soll die Mitgliedstaaten und die Kommission beim Austausch von Gesundheitsdaten für die öffentliche Gesundheit, Behandlung, Forschung und Innovation in Europa unterstützen. Damit die Daten sicher ausgetauscht werden können, müssen die verschiedenen Quellen (elektronische Patientenakten, Register, IT- oder digitale Tools) miteinander verknüpft sein. Dies erfordere eine „Interoperabilität zwischen den verschiedenen Infrastrukturen und IT-Systemen“, betonte Yiannos Tolias, der die Europäische Kommission vertrat. Die Infrastruktur auf europäischer Ebene baut auf bestehenden Initiativen wie der digitalen eHealth-Diensteinfrastruktur, den Europäischen Referenznetzen und dem Genomik-Projekt auf und versteht sich als deren Erweiterung.

In ihrem Impulsvortrag erläuterte Frau Professorin Indra Spiecker genannt Döhmann, von der Goethe Universität in Frankfurt das Interesse der Forschung an Daten: „Forschung mit Gesundheitsdaten ist ubiquitär“. Pandemie und Digitalisierung wecken Begehrlichkeiten an Daten – nicht nur in Krisenzeiten. Wichtig sei die Zweckbindung bei der Datennutzung, so Spiecker. „Wenn Daten einmal verfügbar sind, dann gibt es leicht Zugriffe durch die Wirtschaft, durch den Staat.“ Sie plädierte darum für eine „klare Regelung der Zugangs- und Zugriffsrechte.“

Die EU könnte wegweisend sein, wie bereits im Bereich Datenschutz und künstliche Intelligenz, appellierte Spiecker. Die EU habe begrenzte Kapaziäten, die ihr übertragen worden sind und deshalb gebe es offene rechtliche „Resträume“ in den Nationalstaaten. Eine Bremse stelle das Sozialversicherungsrecht dar, „da behalten sich ähnlich wie im Steuerrecht die Mitgliedsstaaten ihre Eigenheiten vor.“ Abschließend warnte Spiecker vor der sogenannten Fliegenpapierfalle „Alle machen das“ sei „keine Klugheitsregel, sondern ein Türöffner für die Interessen anderer.“ Der Einzelne könne sich nur schwer schützen, dafür müsse die Politik sorgen.

Mit einem Appell an die Europäische Politik, Daten sowohl zu schützen als auch für Zwecke der Forschung und des Ausbaus von Gesundheitsdateninfrastrukturen nutzbar zu machen schloss der 18. Crisis Talk. Es war der erste Crisis Talk - veranstaltet durch die Vertretung des Landes Hessen bei der EU, der Leibniz-Forschungsverbund „Krisen einer globalisierten Welt“, das Europabüro der Leibniz Gemeinschaft und das Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ -, der seit Beginn der Corona-Pandemie wieder anteilig in Präsenz in der Hessischen Landesvertretung stattfinden konnte.

Crisis Talk: Gesundheitsdatenraum im Spannungsfeld zwischen medizinischer Versorgung, Forschungsfreiheit und Datensicherheit. Livestream bereitgestellt durch Hessen in Berlin und Europa (simultane Verdolmetschung Englisch/Deutsch).
Begrüßung

Mark Weinmeister
Hessischer Europastaatssekretär

Dr. Stefan Kroll
Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Leiter Wissenschaftskommunikation

Impuls

Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann
Goethe-Universität Frankfurt am Main

Podiumsdiskussion

Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann

Axel Voss
Mitglied des Europäischen Parlaments

Yiannos Tolias
Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit der Europäischen Kommission

Moderation

Lucia Schulten
Deutsche Welle Studio Brussels

Die "Crisis Talks" gehen systematisch und entlang konkreter Herausforderungen der Frage nach, wie Europa mit seinen aktuellen und vergangenen Krisen umgeht, was die Chancen der Krisen sind, und was man aus der Bewältigung vergangener Krisen lernen kann. Die Vortragsreihe "Crisis Talks" wird seit Juni 2015 vom Leibniz-Forschungsverbund "Krisen einer globalisierten Welt" regelmäßig in der Vertretung des Landes Hessen bei der Europäischen Union in Brüssel veranstaltet.