Kriseninterventionen und ihr Einfluss auf den Agrarmarkt

Interview mit der Agrarökonomin PD Dr. habil. Linde Götz ¹

LFV-Krisen: Mit welcher Art von Krisen beschäftigen Sie sich?

Götz: Als ich 2008 an das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien kam, fand gerade eine Ernährungskrise auf den Weltmärkten statt. Diese Krise im Ernährungssektor zeichnete sich dadurch aus, dass vereinfacht ausgedrückt, aus einer ganzen Reihe von Gründen das Angebot von verschiedenen Agrarprodukten auf den Weltmärkten für die Herstellung von Nahrungsmitteln besonders knapp war und folglich die Nahrungsmittelpreise kurzfristig stark anstiegen. Zu dieser Zeit begann ich, mich mit der Krisenthematik zu beschäftigen. Dabei setzte ich mich vor allem mit dem russischen Getreidemarkt, aber auch den Getreidemärkten in der Ukraine, Kasachstan und Serbien, sowie den Auswirkungen der politischen Kriseninterventionen auseinander. Schon 2007 intervenierte die russische Regierung in den Markt und führte Exportbeschränkungen für Weizen ein, um den Export von Weizen auf die internationalen Märkte zu vermindern. Diese Politik war 2007/08 stark verbreitet, laut FAO in über 35 Ländern weltweit.

Die Politik der Intervention im Agrarhandel setzte Russland auch 2014 im Zuge der Ukraine-Krise fort. Interessant dabei ist, dass in diesem Fall geopolitische Spannungen Auslöser der Krise waren. Mehrere westliche Länder verhängten Sanktionen gegen Russland, auf die das Land mit einem Nahrungsmittelimportverbot reagierte. Am IAMO haben wir die Auswirkungen dieses Importverbots auf die Wertschöpfungsketten in Russland untersucht. An diesem Beispiel zeigt sich auch, inwieweit verschiedene Faktoren bei einer Krise zusammenwirken. Denn das russische Importverbot ging zur gleichen Zeit einher mit einer ökonomischen Krise in Russland, welche durch den starken Rückgang der Ölpreise forciert wurde.

LFV-Krisen: Wie lassen sich Krisen im Ernährungssektor diagnostizieren? Spielen eher objektive oder subjektive Faktoren eine Rolle bei der Entscheidung, ob eine Krisensituation vorliegt?

Götz: In diesem Zusammenhang finde ich die Aussage von Frau Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, „Krise ist immer dann, wenn jemand sagt und ihm viele glauben, dass Krise ist“, sehr treffend. Mit meiner Arbeit versuche ich, ökonomische Auswirkungen von Krisen zu identifizieren. Im Falle Russlands wurde zwischen 2007 und 2011 mittels Exportsteuern und einem Exportverbot die Weizenexporte auf die internationalen Märkte verringert bzw. gestoppt. Damals sprach die Regierung von einer drohenden Ernährungskrise und argumentierte, dass die Versorgung der Bevölkerung im Land mit Weizen nicht sichergestellt werden könne und die Gefahr großer Preissprünge von Brot bestehe. Diese Argumentation finde ich nicht überzeugend, denn in Russland ist die Getreideproduktion seit 2000 kontinuierlich ausgeweitet worden und zwar so sehr, dass Russland inzwischen zum größten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen ist und ungefähr die Hälfte seines selbst produzierten Weizens auf die internationalen Märkte exportiert.

Die russische Regierung hat, wie viele andere Länder, ihre Intervention damals offiziell mit Problemen der Ernährungssicherung im Land begründet. Unsere Forschung hat jedoch gezeigt, dass höchst fraglich ist, inwieweit Exportbeschränkungen bei Weizen überhaupt der Brotpreisinflation entgegenwirken können. Denn die Kosten von Weizen machen heute nur ca. 10-15% der gesamten Produktionskosten von Brot aus. In unseren Untersuchungen nicht nur in Russland sondern auch der Ukraine und Serbien hat sich gezeigt, wie anfällig der Krisenbegriff ist nicht nur von Politikern, aber auch Akteuren in der Wertschöpfungskette instrumentalisiert zu werden. Es ist kein Einzelfall dass in vermeintlichen Krisensituationen politische Interventionen auf Märkten und im Handel mit dem Ziel der Sicherung des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden. Im Falle von Exportbeschränkungen für Weizen ermöglichen diese oftmals einzelnen Akteuren entlang der Weizen-Brot Wertschöpfungskette ein höheres Einkommen zu erzielen.

Dabei sind die Leidtragenden am Ende jedoch die Konsumenten, die dennoch mit höheren Nahrungsmittelpreisen konfrontiert sind.

LFV-Krisen: Krisen führen oft zu Interventionen von Seiten des Staates. Welche Auswirkungen haben politische Marktinterventionen auf die Weizen-Brot-Wertschöpfungskette während globaler Agrarpreisspitzen?

Götz: Mit dieser Fragestellung haben wir uns in Untersuchungen des Getreidesektors Serbiens auseinandergesetzt und sind zu überraschenden Ergebnissen gelangt, die ins Auge stechen. Denn gerade dort, wo die politische Intervention am stärksten ausgefallen ist, stiegen die negativen Effekte weiter an. Kriseninterventionen erzeugen Intransparenz,  denn die Marktlage wird verändert und dadurch entsteht eine gewisse Unsicherheit, welche einzelne Akteure in der Wertschöpfungskette zu ihren Gunsten zu nutzen vermögen. Beispielsweise haben die Bäckereien in Serbien als Reaktion auf die Exportbeschränkungen nicht die Brotpreise reduziert, sondern mit Verweis auf die „Krisenlage“ und hohen Getreidepreise die Brotpreise weiter erhöht. Das wollte man mithilfe der Preisintervention eigentlich verhindern und zeigt die Kehrseite politischer Intervention auf.

LFV-Krisen: Der Forschungsverbund beschäftigt sich mit den Krisen einer globalisierten Welt. Wie beeinflussen Interventionen im Ernährungssektor den Weltmarkt? Führen in einem Land ergriffene Kriseninterventionen zur Krise des Ernährungssektors in einem anderen Land?

Götz: Es besteht ein gewisser Zusammenhang, wie sich anhand der Exportbeschränkungen zeigen lässt. Denn wenn gleichzeitig eine große Anzahl an Ländern die Exporte beschränkt, wie dies 2007/8 der Fall war, führt dies zu einem stark verringerten Angebot auf dem Weltmarkt. In Russland hatten wir 2007/8 aufgrund der Dürre bereits ein vermindertes Exportangebot. Die daraufhin von der Politik verabschiedeten Exportbeschränkungen haben dieses Angebot auf dem Weltmarkt noch weiter reduziert. Das wiederum hat den bereits angestiegenen Weltmarktpreis weiter in die Höhe getrieben. Leidtragende waren die Importländer, die dadurch einen höheren Preis zahlen mussten. Dass dies gravierende Auswirkungen haben kann, zeigte sich 2008 in Ägypten, das die Hälfte seines Weizenkonsums von den Weltmärkten, und hier besonders aus Russland, importierte. Dort sind in 2007/08 die die Weizenpreise parallel zu den Weltmarktpreisen kurzfristig dramatisch angestiegen.  

LFV-Krisen: Wie lässt sich vor diesem Hintergrund eine Krisenintervention gestalten, die sensibel gegenüber den möglichen Effekten auf den Weltmarkt ist und gleichzeitig die lokal auftretenden Probleme angeht?

Götz: Viel ließe sich bereits durch eine effiziente Gestaltung des Marktes erreichen. Auf einem gut funktionierenden Markt löst der Getreidepreisanstieg in einer Region, beispielsweise verursacht durch eine schlechte Ernte, Getreidelieferungen aus Nachbarregionen aus, welche den Preissteigerungen entgegenwirken. In den Märkten in Russland ist dies nur bedingt der Fall. Bricht beispielsweise eine Dürre aus, welche aufgrund der Größe Russlands nie alle Produktionsregionen gleichzeitig trifft, sondern regional begrenzt ist, steigt der Preis von Getreide in dieser Region. Hat man jedoch eine funktionierende Infrastruktur und eine gute Verbreitung von Preisinformationen, so könnte man schnell aus Regionen mit einer „guten“ Ernte Getreide liefern, um so den Preisanstieg in der anderen Region zu dämpfen. Die Märkte in Russland funktionieren jedoch relativ langsam. Würde man den Ausbau der Marktinfrastruktur der Getreidemärkte vorantreiben, welche einen ausreichenden und schnellen Transport von Getreide zwischen Regionen ermöglicht, würden als Reaktion auf solche Schocks schnell derartige Ausgleichsreaktionen ablaufen. Hinzu kommt, dass es in Russland nur schwach entwickelte Terminmärkte gibt, wie in den USA (CBOT) oder der EU (EURONEXT). Warenterminmärkte sind jedoch vor allem für die Schaffung von Markttransparenz wichtig, um einen Überblick über die zukünftige Preisentwicklung zu erhalten, und damit die Bildung eines Preises erleichtert, der die Höhe des Angebots und der Nachfrage adäquat widerspiegelt. Die Unterstützung der Entwicklung solcher Märkte wäre eine weitere Maßnahme, um die Effizienz der russischen Märkte zu verbessern.

LFV-Krisen: Agrarpreisspitzen werden auf der einen Seite als krisenhafte Phänomene gesehen. Auf der anderen Seite schreiben Sie in einem IAMO Policy Brief 2011, dass steigende Weltmarktpreise für Agrargüter auch mit erheblichen Chancen verbunden sein können. Lässt sich eine Krise also anhand der Agrarpreise ablesen?

Götz: Die Bewertung einer Ernährungskrise ist immer auch eine Frage der Perspektive. Hohe Agrarpreise sind vorteilhaft aus Sicht der Produzenten – in Industrieländern wie insbesondere auch in Entwicklungsländern- und wenn sie das erwirtschaftete Geld in den Ausbau der Nahrungsmittelproduktion investieren, dann ist dies langfristig auch wieder gut für die Konsumenten. Kurzfristig sind hohe Agrarpreise jedoch nachteilig für ärmere Konsumenten besonders in Entwicklungsländern, welche große Anteile ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen. Ernährungssicherheit setzt eben nicht nur voraus dass Nahrungsmittel ausreichend verfügbar sind. Eine große Rolle spielt hierbei auch das Niveau der Nahrungsmittelpreise, sodass sich auch ärmere Haushalte ausreichend ernähren können. Hier ist entscheidend, wie groß der Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel an den Gesamtausgaben bzw. -einnahmen eines Haushalts sind.

LFV-Krisen: Welche Auswirkungen hat die Verwendung von Krisenrhetorik auf die Situation im Ernährungssektor?

Götz: Die Verwendung des Krisenbegriffs ruft leicht eine Art Hysterie hervor, die von Marktakteuren ausgenutzt werden kann, so wie sich dies in unseren Untersuchungen für die Bäckereien in Serbien während der Agrarpreisspitzen gezeigt hat. Mit unserer Forschung versuchen wir Klarheit darüber zu schaffen, was tatsächlich geschehen ist, und was die Ursachen sind. Eine Erhöhung der Nahrungsmittelpreise als Folge eines kurzfristigen Anstiegs der Agrarpreise ist aus zweierlei Gründen oftmals nicht gerechtfertigt: Zum einen ist der Anteil der Agrarrohstoffkosten an den Produktionskosten von verarbeiteten Nahrungsmitteln oftmals geringer als vermeintlich angenommen, wie oben erwähnt im Falle von Weizen für Brot.

Hinzu kommt, dass Preisspitzen auf Agrarmärkten infolge der Saisonalität gewöhnlich temporär sind und meist nur wenige Wochen bis hin zu wenigen Monaten andauern – sofern „schlechte Ernten“ nicht in mehreren Saisons in Folge auftreten. Üblicherweise haben Verarbeitungsunternehmen eigene Lager für diese Agrarrohstoffe, die es erlauben, Hochpreisphasen zu überbrücken, und sind daher kurzfristig von solchen Preisspitzen gar nicht betroffen. So besitzen große Bäckereien eigene Lager und bedienen ihren unmittelbaren Bedarf aus diesen heraus. Das bedeutet bei einer Erhöhung des Getreidepreises auf dem Markt, dass sich diese überhaupt erst verzögert auf die Bäckereien auswirken dürfte, da vorher noch mit gelagertem Getreide bzw. Mehl produziert wird. Dies ist jedoch gerade den Endkonsumenten oft nicht bewusst. Deshalb versuche ich als Wissenschaftlerin, Betroffene über die Lage zu informieren, um durch die Verbreitung von Faktenwissen zur Versachlichung der Diskussion beizutragen.

LFV-Krisen: Auf welche Herausforderungen stoßen Sie bei der Erforschung von Krisen auf Agrarmärkten?

Götz: Eine Herausforderung stellt die Verbindung von Theorie und Empirie dar. Bestimmte Phänomene kann ich in meinen Daten beobachten, jedoch lassen sich Kausalitäten  nicht  so einfach nachweisen. Deshalb müssen wir zunächst –abgeleitet von ökonomischen Theorien- viel Bedeutung in die Daten legen, darum kommen wir nicht herum. Gespräche und Diskussionen mit Praktikern, in diesem Falle sind dies vor allem Getreidehändler, sind extrem wertvoll für mich, meine Annahmen und Hypothesen zu prüfen, zu verfeinern bzw. anzupassen und eine Theorie der ökonomischen Prozesse zu entwickeln, die dem empirischen Phänomen zu Grunde liegen. Meine Forschung sehe ich daher als einen Back-and-Forth-Prozess: ich nutze ökonomische Theorie und wende diese auf ein empirisches Phänomen an, um es zu strukturieren und zu erklären, und zugleich entwickle ich in der empirischen Anwendung die ökonomische Theorie weiter.

Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Beantwortung großer Fragen, wie der nach der Sicherstellung der globalen Ernährungssicherheit und der Rolle Russlands dabei, welchen einen interdisziplinären Forschungsansatz erfordern. Mit meinen Methoden kann ich einen Teilbeitrag zur Beantwortung der Frage leisten, am Ende müssen jedoch Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammenkommen, um hier gemeinsam eine präzise Aussage treffen zu können.

LFV-Krisen: Sie befassen sich bereits seit vielen Jahren mit dem Agrarsektor und Marktinterventionen in Russland. Welche Implikationen hat Russlands Entwicklung zum weltgrößten Getreideexporteur?

Götz: Wir gehen davon aus, dass Russland seine Position behaupten und die Bedeutung des Landes für die globale Ernährungssicherheit bei Weizen vielmehr ausbauen wird, und langfristig auch weitere Agrarprodukte wie Ölsaaten und Fleisch verstärkt auf die Weltmärkte exportieren wird. Bei Weizen könnte dies zu einer erhöhten Preisvolatilität auf den Weltgetreidemärkten beitragen. Die Gründe hierfür sind zum einen die weltweit zunehmend auftretenden Wetterereignisse, die in Russland oftmals zu Dürren führen, und zum anderen die hohe Politikunsicherheit. In Russland gibt es eine Historie der Politikinterventionen auf dem Getreidemarkt, hinzu kommt die makroökonomische Instabilität. Unsere Forschung weist darauf hin, dass mit der Aufgabe der Rubel-Wechselkursfixierung im November 2014 der russische Weizenpreis verstärkt von Wechselkursbewegungen beeinflusst wird. Mit der großen und weiter steigenden Bedeutung Russlands für die Getreideexportmärkte werden sich diese Instabilitäten zunehmend auch auf die internationalen Getreidemärkte übertragen.

Darüber hinaus ergreift die russische Regierung verstärkt Maßnahmen um das Ziel, den Wert der Agrarexporte quasi bis 2024 zu verdoppeln, zu erreichen. Dies schließt die Bildung großer vertikal hochintegrierter Exportunternehmen unter Beteiligung von Staatsunternehmen, welche auch über große Anteile an inländischen Transport-, Lager- und Hafenexportkapazitäten verfügen, mit ein. Und zudem sind im Getreideexportbusiness weiterhin vor allem die großen Agroholdings engagiert.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Entwicklungen zur Bildung eines gut funktionierenden, wettbewerbsmäßigen Getreideexportmarktes in Russland führen, oder zunehmend einzelne mächtige Marktakteure die Gelegenheit erhalten, ihre Macht ausnutzen, um die Gewinne zu steigern, mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Getreidepreise weltweit.

LFV-Krisen: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde geführt von Thomas Siurkus.

¹ Das Interview wurde vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie aufgezeichnet.

Kontakt
PD Dr. habil. Linde Götz
Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO)
Goetz@iamo.de
Zur Person

PD Dr. habil. Linde Götz ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Agrarmärkte am Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) und Privatdozentin am Institut für Agrar- und Ernährungswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle. Sie forscht zu Wettbewerb und Effizienz von Agrarmärkten und Wertschöpfungsketten im Ernährungssektor. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte liegt auf der Entwicklung der Agrarwirtschaft Russlands.